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Henri Guisan

Aus einer Zwangslage zum Helden?

Henri Guisan

Worum geht es?

Nachdem der erfolgreiche «Blitzkrieg» des Deutschen Reiches am 22. Juni 1940 Frankreich zur Kapitulation gezwungen hatte, befand sich die Schweiz – und allen voran General Henri Guisan – in einer kritischen Zwangslage: Sie war eingekesselt von den faschistischen Achsenmächten und den von ihnen besetzten Gebieten. Guisan als Oberbefehlshaber der Schweizer Armee entschied sich zur Umsetzung der «Réduit-Strategie». Was beinhaltete dieser Entscheid und wie wurde er von Zeitgenoss:innen während des Zweiten Weltkrieges sowie von der Nachwelt aufgefasst?

Quellen und Meinungen

Guisans Befehl an die Armee vom 2. Juli 1940

Ich warne die Armee vor den Gefahren, die ihr von aussen wie von innen erwachsen können. – Die erste Gefahr liegt in einem sorglosen Vertrauen auf die derzeitige allgemeine Lage. Waffenstillstand heisst nicht Friedensschluss. Noch dauert der Krieg zwischen Deutschland, Italien und England fort. Er kann unerwartet weitere Länder erfassen, sich wieder der Schweiz nähern und unser Land bedrohen. – Die zweite Gefahr liegt in einem Mangel an Vertrauen in die eigene Widerstandskraft. Gewiss, die letzten Schlachten beweisen die Wucht des neuzeitlichen Angriffes, und viel mächtigere Armeen als die unsere sind geschlagen worden. — Das darf nie ein Grund zu Defaitismus sein und ebensowenig Grund, an unserer Aufgabe zu zweifeln. — Wir besitzen ein bedeutendes Mittel für die Verteidigung: unser Gelände! Es ergänzt die Zahl und erhöht die Wirkung unserer Waffen. Richtig ausgenützt, wird es zum gefürchteten Verbündeten. […] Wir werden kämpfen, auch wenn uns der Waffensieg nicht bestimmt sein sollte. Wir streiten um jeden Fussbreit Boden und erhalten die Ehre der Armee und unseres Landes.

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Quelle

Guisan im Urteil der Nachwelt

Bis heute wird Guisans Entscheidung kontrovers diskutiert: War es ein Akt des hartnäckigen Widerstands oder der Anpassung an die neuen Machtverhältnisse? Dazu die folgenden Meinungen:

Analyse des Guisan-Biografen Willi Gautschi, 1989:

In der Einleitung zum Befehl kündete Guisan an, in wenigen Tagen werde ein Teil der Truppen entlassen und auf Pikett gestellt, ‹während die Hauptmacht unter den Waffen bleibt›. Diese Ankündigung bedeutete insofern eine Täuschung, als auf den 6. Juli tatsächlich die ‹Hauptmacht› demobilisiert wurde und die Befehle dazu bereits erteilt waren. Nach diesem Zeitpunkt sank der Bestand der unter den Waffen stehenden Truppen um zwei Drittel, das heisst von 450’000 auf etwa 150’000 Mann.

Guisan erläuterte später, diese Entlassungen seien angeordnet worden, ‹um die Bedürfnisse der Landwirtschaft und der Industrie zu befriedigen›. Dies ist sicher teilweise zutreffend, doch war vor der Abmusterung den Truppen bekannt zu geben, dass Kader und Mannschaften, die arbeits- oder verdienstlos wären, im Dienst behalten würden, ‹sofern sie nicht auf Entlassung bestehen›. Dies ist ein Hinweis, dass zunächst Arbeitslosigkeit befürchtet wurde. […] Es besteht kaum ein Zweifel, dass die weitgehende Demobilmachung weniger aus volkswirtschaftlichen Gründen erfolgte, sondern vielmehr, um dem siegreichen Deutschen Reich gegenüber den guten Willen zu verständnisvoller Haltung zu signalisieren.

Die Demobilmachung, die im Sommer 1940 zu einer erheblichen Verminderung der Abwehrbereitschaft führte, hätte sich in der Tat verhängnisvoll auswirken können: Nach der Schlacht um Frankreich befand sich die Schweiz, ohne damals die tödliche Gefahr zu erkennen, in der Phase der grössten Bedrohung während des ganzen Krieges. […] Die Deutschen, denen die Entlassung eines Teils der Schweizer Armee nicht entgangen war, schätzten die Stärke der im Felde stehenden Truppen […] im August noch auf 120’000 Mann. In diesem Zeitpunkt erfolgte durch die deutsche Wehrmacht die Ausarbeitung von Operationsskizzen zu einem Feldzug gegen die Schweiz, Studien, die unter der Bezeichnung ‹Operation Tannenbaum› erst nach dem Kriege bekannt wurden.

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Quelle

Historiker und Verleger Markus Somm über Guisan, 2010:

Für viele, vor allem Jüngere, ist Guisan höchstens noch Teil der Nostalgie-Folklore. Wenn sie sein Porträt betrachten, steigt ihnen der muffige Geruch der fünfziger Jahre in die Nase. […] Das hat Guisan nicht verdient. Er war kein Statist im Zweiten Weltkrieg, den man jederzeit mit einem anderen ersetzen konnte, sondern er spielte die Hauptrolle. General Guisan war wohl die bedeutendste Persönlichkeit der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts. Auf ihn kam es an. […]

Nach der Niederlage von Frankreich im Juni 1940 verloren viele Schweizer den Glauben an die Überlebensfähigkeit des Landes. Unaufhaltsam hatte sich die deutsche Wehrmacht über den Kontinent geschoben. Was vermochte die eidgenössische Armee dagegen auszurichten, deren Soldaten in schlecht geschnittenen Uniformen steckten und deren Geschütze zum Teil aus dem 19. Jahrhundert stammten? […] Aus Angst vor dem Tod schien die Schweiz Selbstmord begehen zu wollen. […]

Der Entscheid, ins Reduit zu ziehen, war Guisan nicht leicht gefallen. Er zauderte. Er nahm ein grosses Risiko in Kauf – und gewann. Am Ende erwies sich das Reduit als zentrale Errungenschaft der Schweizer während des Krieges.

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Geschichtsprofessor Jakob Tanner zu Guisans 50. Todestag, 2010:

Nach dem Schock des Zusammenbruchs der französischen Armee und der Kapitulation Frankreichs schlug seine [Guisans] grosse Stunde. Während die Regierung Orientierungslosigkeit und Unsicherheit verbreitete, proklamierte Guisan einen Monat später mit dem Rütli-Rapport den nationalen Widerstand. Im Rückzug ins Reduit sah er die einzige realistische Überlebenschance des Landes. Dass er damit drei Viertel des Territoriums preisgab und exakt in der Phase grösster militärischer Bedrohung der Schweiz im Interesse der Wirtschaft zwei Drittel der Heeresbestände demobilisierte, wurde damals nicht diskutiert.

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Quelle

General Guisan, Bericht an die Bundesversammlung über den Aktivdienst, 1946:

Wenn wir uns ehrlich fragen, so müssen wir gestehen, dass wir im Verlaufe dieser fünf Jahre und acht Monate nur einen richtigen ‹Theatercoup›, das heisst eine Situation, die sich unsere Einbildungskraft nicht zum vorneherein in ihrer ganzen Tragweite und Brutalität hatte vorstellen können, erlebt haben: das war die vollständige Einschliessung, in die uns Ende Juni 1940 der Sieg Deutschlands über die gesamten Landstreitkräfte im Westen, mit Ausnahme der Luft- und Seestreitkräfte Grossbritanniens, seiner moralischen Kraft und der noch schlummernden Kräfte Amerikas, versetzte.

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